Jagdliche Kenntnisse über die Jagd auf chinesisches Wasserreh in England sind über die Grenzen der Insel nicht gerade weit verbreitet. HuntInMotion ergriff die Chance, auf diese skurrile Wildart zu waidwerken.
Fangzähne wie Säbelzahntiger
Großbritannien ist weltberühmt für die reizvolle Pirsch auf den majestätischen Rothirsch in Schottland, die aufregende Blattjagd auf Rehwild in Mittelengland, vielleicht sogar für die Jagd auf das heimliche Sikawild in der Region um Dorset, aber ganz sicher für die Flintenjagd auf hochfliegende Fasanen und schnelle Tauben. Ja, die Insel hat jagdlich einiges zu bieten und so bin natürlich auch ich ihren Reizen erlegen. Aber nicht auf Rot-, Reh- oder Sikawild möchte ich weidwerken, nein, England ist inzwischen auch die Heimat einer der exotischsten Hirscharten überhaupt – des Chinesischen Wasserrehs. Viel hört und liest man nicht über diese Wildart, aber seit ich Wasserrehe im Pekinger Zoo beobachtet hatte, reifte in mir der Wunsch, einmal diese skurrilen Hirsche zu bejagen, die keine Geweih ausbilden, dafür aber Fangzähne haben wie Säbelzahntiger.
Empfehlungen eines Jagdfreundes
Durch die Empfehlung eines Jagdfreundes trete ich per E-Mail mit einem Jagdanbieter in Kontakt, dessen Ruf ihm auch auf dem Kontinent schon vorauseilt. Er antwortet prompt, ein kurzer Briefwechsel folgt und ich buche. Da ich noch ein paar zusätzliche Urlaubstage eingeplant habe, nehme ich das Auto, schiffe in Calais ein und gehe in Dover wieder an Land. Von dort führt mich mein Weg östlich an London vorbei nach Woburn, wo ich mich am nächsten Morgen mit meinem Outfitter und Guide Alex Hinkins verabredet habe. Pünktlich um 6:30 Uhr früh bin ich am verabredeten Treffpunkt, wo Alex mich schon erwartet.
100% Erfolgsquote
Alex ist einer der erfahrensten und besten Pirschführer auf der Insel, seine Erfolgsquote von 100% in 2013 spricht für sich. Darüber hinaus ist er einer der ganz wenigen Kooperationspartner von Blaser und Zeiss und persönlich mit dem aktuellen Duke of Bedford bekannt. Und so darf ich heute auf dem Grundbesitz des Duke jagen, natürlich nicht im Park des Herrenhauses „Woburn Abbey“ selbst, sondern in den daran angrenzenden Ländereien. Also quasi in der Wiege der englischen Wasserreh-Population, da, wo alles begann und von wo aus sich diese kleinen, asiatischen Hirsche über den Süden Englands in Rekordzeit ausbreiteten.
Standesgemäß im Land Rover
Noch im Dunkeln fahren wir standesgemäß im Land Rover über Feldwege ins Herz des Jagdgebiets, stellen das Auto hier ab und beratschlagen die Strategie des heutigen Tages zur Jagd auf chinesisches Wasserreh in England. Große Felder, die immer wieder von kleinen Bächen und Hecken durchzogen werden, prägen hier das Landschaftsbild. Flach ist es hier, so dass wir extrem auf Kugelfang achten müssen, nicht zuletzt, weil sich die Autobahn M1, die Verkehrsader, die Großbritannien von Nord nach Süd durchzieht, durchs Revier schlängelt. Das Wetter verspricht wunderschön zu werden, nur der Wind macht uns Sorgen, weht er doch heute ausnahmsweise einmal aus Ost, was uns zwingt, in Richtung der Autobahn zu pirschen. Bei einer eventuellen Schussabgabe ist also äußerste Vorsicht geboten.
Ausschließlich Goldmedaillen-Böcke
Wir entscheiden uns zunächst, zu einem Strommast mitten auf einem Feld zu pirschen, um von dort aus einen Überblick zu bekommen. Wasserrehe gibt es hier jede Menge, aber auf Woburn werden aufgrund eines restriktiven Wildtiermanagements ausschließlich Goldmedaillen-Böcke erlegt. Anders als bei anderen Hirschen haben Wasserrehe kein Geweih – die einzige Trophäe sind die Eckzähne und um diese zu begutachten, damit man einen schussreifen Bock ausfindig machen kann, muss man nah ran an das Wild. Bäuchlings haben wir es uns unter dem Strommast bequem gemacht, als es zu dämmern anfängt, und plötzlich heben sich hier und da dunkle Punkte vor dem grünen Hintergrund ab. Alex glast das Feld ab, kann aber lediglich einige Ricken mit ihren Kitzen bestätigen. Doch plötzlich zieht ein einzelnes Wasserreh direkt auf uns zu. Ich habe meine Waffe längst griffbereit, aber Alex schüttelt, nachdem er sich den Burschen ausführlich im Glas angeschaut hat, nur leicht den Kopf. Ein einjähriger Bock zieht hier auf uns zu, den wir selbstverständlich nicht erlegen wollen.
Günstiger Wind
Der Wind steht günstig und so kommt er seelenruhig näher, bis er nur noch wenige Meter von uns entfernt ist, umschlägt dann den Strommasten, unter dem wir liegen, und geht hochflüchtig ab, als er dann doch Wind von uns bekommt. Klasse, meine Jagd hat gerade einmal vor 10 Minuten begonnen und ich bin einem Chinesischen Wasserreh schon bis auf 3 Meter nahe gekommen. Wir bleiben noch ein wenig liegen, aber es zeigt sich kein weiteres Wasserreh mehr auf diesem Feld, so dass wir abbrechen, um woanders unser Glück zu versuchen. Auf dem benachbarten Feld stehen etwa 20 Wasserrehe, wir lassen uns lautlos und vorsichtig in einen Graben neben dem Weg gleiten (der zum Glück kein Wasser führt) und schieben uns durch die angrenzende Hecke hin zum Feld. In dieser Position können wir in aller Ruhe jedes einzelne Tier unter die Lupe nehmen, aber auch bei diesem Trupp steht kein starker Bock.
Ein guter Bock
Inzwischen ist es 11 Uhr geworden und die Wasserrehe, die in der Morgendämmerung sehr aktiv waren, sind ruhiger geworden und haben sich auf den Feldern niedergetan. Auf der Jagd auf chinesisches Wasserreh in England pirschen wir weiter entlang einer Hecke, als wir auf etwa 150 Schritt ein einzelnes Wasserreh erblicken, das sich von uns abgewandt hat, auf der Wiese liegt und wiederkäut. Ab und zu wirft es auf, äugt umher und Alex meint, bei dieser Gelegenheit auch auf diese Entfernung einen Zahn gesehen zu haben. Es ist also ein Bock, ein guter, wie Alex meint. Zwar wäre ein Schuss auf diese Entfernung möglich, aber um ganz sicher anzusprechen, müssen wir viel näher ran an das Stück. Zum Glück können wir den Bock entlang einer Hecke angehen, die dafür sorgt, dass sich unsere Silhouetten nicht zu arg gegen den Himmel absetzen. Leise, langsam und vorsichtig gehen wir das Reh an. Immer wieder müssen wir regungslos verharren, wenn der Bock umher äugt.
Ein klarer Trophäenbock
Als wir uns auf etwa 30 Meter genähert haben, versucht Alex, den Bock einwandfrei anzusprechen, denn die Hecke endet hier und wir können auf keinen Fall näher heran, ohne bemerkt zu werden. Aber das Reh dreht uns immer nur seine rechte Seite zu, so dass wir auch immer nur den rechten Eck-Zahn sehen können. Dieser hat es allerdings in sich, selbst mein ungeübtes Auge erkennt den Zahn, der deutlich über den Unterkiefer hinausragt – ein klarer Trophäenbock also. Wir müssen uns gedulden, warten, bis wir auch den linken Caninus sehen können. Angestrengt beobachtet Alex über zehn Minuten den Bock. Dann lässt er das Fernglas sinken und flüstert mir zu, dass der linke Eckzahn um etwa einen Zentimeter kürzer als der rechte, also ein kleines Stück abgebrochen sei. „Willst du trotzdem schießen?“ Und ob ich will.
Außergewöhnliches Glück
Ich hatte eine herrliche Pirsch bis hierher und wegen eines fehlenden Zentimeters soll ich jetzt abrechen? Mitnichten! Ich nicke Alex zu, der daraufhin langsam und vorsichtig für mich den Schießstock aufstellt. Außergewöhnliches Glück haben wir, dass das Wasserreh vor dem einzigen kleinen Hügel weit und breit liegt, so dass für ausreichend Kugelfang gesorgt ist. Ich habe keine eigene Waffe mitgebracht, sondern führe die Blaser R8 mit (in England legalem) Schalldämpfer im Kaliber .243Win, die Alex mir zur Verfügung gestellt hat. Im Zeitlupentempo lege ich die Waffe auf das Dreibein und mache mich schussfertig. Noch dreht uns der Bock liegend den Rücken zu, bietet mir also keine Gelegenheit für einen Schuss. „Ready?“ fragt Alex und ich nicke und spanne die Waffe. Ein kurzer Wuff-Laut bringt das Reh auf die Läufe, es macht aber dabei auch einen Satz nach links. Ich ziehe mit, mein Absehen ist auf dem Blatt und die Kugel bannt den Bock auf den Platz.
Gespenstische Stille
Keine Flucht, nur ein kurzes Schlegeln, dann ist es gespenstisch still. Ich habe durchrepetiert, behalte das Stück durch das Zielfernrohr im Auge, als plötzlich über den Hügel ein Sprung Wasserrehe auf uns zu kommt. Sie hatten wohl hinter dem Hügel auf dem Feld gelegen und wurden durch den Schuss aufgeschreckt, können aber anscheinend die Richtung, aus der der Schuss kam, nicht richtig einordnen und stehen nun unschlüssig um den erlegten Bock herum, bis sie dann doch zügig, aber nicht hastig nach rechts in Richtung eines nahegelegenen Waldstücks ziehen. Ich schaue ihnen hinterher und erst, als auch das letzte Stück im Wald verschwunden ist, löst sich in mir die Anspannung bei der Jagd auf chinesisches Wasserreh in England.
Skurrile Trophäe
Zusammen mit Alex gehe ich zum Anschuss, setze mich neben mein Reh und streiche mit der Hand über das Fell, das mich mit seinen hohlen, röhrenartigen Haaren an die Decke der nordamerikanischen Gabelantilope erinnert. Tatsächlich ist ein kleines Stück des linken Eckzahns abgebrochen. Ich begutachte die Zähne, kann es kaum fassen, dass diese Tiere reine Pflanzenfresser sind. Aber als ich mir die Lauscher des alten Recken ansehe, den Alex auf etwa 5 Jahre schätzt, fällt mir auf, dass sie mehrfach vernarbt, gerissen und gespalten sind – ein Resultat vieler Revier- und Brunftkämpfe, die bei diesen Hirschen ausschließlich mit den Eckzähnen ausfochten werden. Mein Blick wandert zurück zu den Zähnen und ich bin mir sicher, hier die wohl skurrilste Trophäe meiner bisherigen jägerischen Laufbahn erlegt zu haben.
Das chinesische Wasserreh
Das Chinesische Wasserreh, das ursprünglich im Jangtsekiang-Becken in Ost-Zentral-China beheimatet war, erreicht mit einer Schulterhöhe von bis zu 55 cm und einem Gewicht von maximal 14 kg nicht ganz die Größe unseres heimischen Rehwilds. Insgesamt wirkt sein Körperbau auch etwas kompakter als bei diesem. Das auffälligste Merkmal dieser Hirsche ist allerdings ihr Gebiss. Die oberen Eckzähne der Böcke sind zu Hauern verlängert, die bis zu 8cm lang werden können und deutlich sichtbar aus dem Äser hervorschauen. Dafür fehlt sowohl bei den Ricken als auch bei den Böcken das Geweih komplett. Das Wildbret des Chinesischen Wasserrehs ist eine echte Delikatesse und traditionell in der chinesischen Küche eine der Fleischsorten der „Platte der acht Köstlichkeiten“. In seiner angestammten Heimat China ist das Wasserreh inzwischen streng geschützt, so dass eine Bejagung nur in England (und hier in Bedford, Norfolk und Suffolk) möglich ist. Je näher man nach Woburn in der Grafschaft Bedfordshire kommt, desto höher wird die Wasserreh-Dichte und damit natürlich auch die Dichte an Goldmedaillen-Böcken.
Verbreitung und Bejagung
Es war Herbrand Russell, der 11. Duke of Bedford (19. Februar 1858 – 27. August 1940), dem die Ver- und Ausbreitung des Chinesischen Wasserrehs und auch des Muntjaks in England zugeschrieben werden kann. Auf dem Stammsitz der Familie in Woburn Abbey in Bedfordshire „sammelte“ der Duke Hirscharten der verschiedenen Kontinente. Neben Muntjak, Wasserreh, Dam-, Sika und Rotwild hatte er eine ganz besondere Vorliebe für den Davidshirsch. Er scheute keine Kosten und Mühen, um diese Hirschart in seinen Parkanlagen zu hegen und zu pflegen, und man kann annehmen, dass der Davidshirsch ohne den Duke of Bedford heute wohl ausgestorben wäre. Unglücklicherweise wurden bei einem Bombenangriff im 2. Weltkrieg die Tore der Parkanlage zerstört oder einfach nur offen gelassen (so genau weiß man das heute nicht mehr), so dass viele Hirsche entkommen konnten. Zwar gelang es, die größeren Hirscharten wieder einzufangen, die Muntjaks und Wasserrehe jedoch hatten leichtes Spiel und blieben verschwunden. Sie bildeten die erste Generation der heute in England in freier Wildbahn lebenden Population, die so groß ist, dass sie bejagt werden kann und muss.