Nach der herrschenden Meinung ist die Elchjagd in Estland
die Nummer eins unter den Elchjagden in Europa. Gert G. v. Harling kann das bestätigen, denn er hat dort auf den größten Hirschartigen gewaidwerkt. Hier sein spannender Bericht.
Indian Summer
Tallinn ist der estnische Name der Stadt Reval, Haupt- und Hafenstadt am Finnischen Meerbusen. Nach Ankunft auf dem Flughafen fahren wir 200 Kilometer gen Süden, Richtung Tartu, dem früheren Dorpat – vorbei an verfallenen Gebäuden, Ruinen und Zeugen einer vergangenen, einer besseren Zeit. Die urtümliche Landschaft erinnert an Skandinavien und auf der Elchjagd in Estland wirkt es alles bereits herbstlicher als bei uns in Deutschland. Nur die vielen, jetzt verwaisten Storchennester zeigen an, dass wir im Osten Europas sind. Die Ebereschen hängen voller Beeren, die Zweige biegen sich unter der Last schwer nach unten, und Wacholderdrosseln stärken sich an den dunkelroten Früchten für den Flug in den Süden. Die Bucheckern und Eicheln sind längst gefallen, die meisten Blätter ihnen gefolgt. Lediglich die Weidenbüsche sind nicht verfärbt, kleiden sich noch schlicht grün, und an den Birken hat sich goldgelbes Laub gehalten. Die Lärchen glühen in üppigen braungoldenen Farbtönen, der leuchtend rote Ahorn dazwischen bildet das Leitmotiv in dieser Herbstsymphonie und gibt der Landschaft einen Hauch von Indian Summer.
Frühes Aufstehen auf der Elchjagd in Estland
Der erste Morgen ist einfach nur schön. Gegen sechs Uhr stolpere ich hinter Adi, einem einheimischen Landwirt und Mitglied der hiesigen Jagdgesellschaft, her. Auf unserem Marsch durch Sumpf und Gestrüpp passieren wir von Sturm oder Feuer geschaffene Freiflächen, bestanden mit Espen und Weiden, ziehen an einem sumpfigen Schilfgürtel entlang, der mit einzelnen Erlen und Birken bestockt ist, und stiefeln durch unermesslich weite Wälder, in denen nicht der Mensch, sondern noch die Natur regiert. Die Elchjagd in Estland ist wilder, natürlicher, gewaltiger als in den dicht besiedelten anderen Teilen der Welt, der Mensch hat der Natur noch nicht den Stempel der Zivilisation aufgedrückt. Immer wieder sinken die Stiefel in den morastigen Boden, der sich unter dem Moos und der Heide verbirgt und das Laufen recht mühsam macht. Jeden Augenblick rechne ich damit, dass eine Schnepfe aufsteht, und tatsächlich machen wir drei der Vögel mit dem langen Gesicht hoch.
Estnische Fleischjäger
Die Jagd mit dem vorstehenden oder unter der Flinte jagenden Hund wird in diesem Teil des Ostseeraums kaum noch ausgeübt, obwohl es Waldschnepfen, Bekassinen, Wachteln, Reb- und Raufußhühner in Hülle und Fülle gibt. Die Zeit der Not unter der geknechteten Bevölkerung hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Traditionen vergessen lassen, die heutigen Jäger Estlands sind Fleischjäger. Vor dem Ersten Weltkrieg war sowohl im Baltikum als auch in Nord- und Mittelrussland die Suchjagd mit Vorstehhunden auf Flugwild üblich und so abwechslungsreich wie wohl kaum irgendwo anders in europäischen Wildbahnen, erzählte mir ein Onkel, der hier früher ein großes Gut besaß und oft auch auf Elchjagd in Estland ging.
An der Rapskante
Schließlich lässt Adi mich inmitten riesiger Bruchwälder an einem Rapsfeld bei einer Kanzel zurück. Zwischen Wolkenballen hervor funkelt ein einsamer Stern mit mildem Licht und lenkt den Blick aufwärts, alle lauten Gedanken schlafen ein, und nachdem die Büchse entsichert in der Ecke steht, die Kanzelluken geöffnet sind, ergreift mich trotz der Enge des Hochsitzraums Spannung und Erwartung. Als das Licht allmählich die Dunkelheit verdrängt, erscheint in einer Gangart zwischen Schnüren, Hoppeln und Rollen ein dunkles „Etwas“ am Rand des Feldes. Ein Marderhund. Ich habe Muße, diesen Einwanderer aus dem ungeliebten Russland minutenlang zu beobachten und mich dann zwei Stunden lang an der Stille in der urwüchsigen, urtümlichen Natur zu erfreuen.
Muntere Vögel
Dass der Raps über oberschenkelhoch steht, erkenne ich erst, als ein Schwarm Zeisige vor mir einfällt. Als ich die munteren Vögel durch das Fernglas näher betrachte, entdecke ich eine Ricke. Nur die spielenden Lauscher sind kurz auszumachen und tauchen bald wieder ein in den grünen Blätterwald. Bis auf den Enok, die Ricke und einen Birkhahn, der zehn Meter an meinem Kopf vorüberrauscht, sehe ich bis jetzt kein anderes Wild.
30 Hektar Acker
Als die Sonne hoch steht, holt mich Adi wieder ab. Im Rapsfeld finden wir frische Elchfährten, zurückgelassen im feuchten Erdboden, wie eine unfreiwillige, aber charakteristische Unterschrift als Bestätigung, und ich beschließe, am Abend wieder dort anzusitzen. Adi hat es eilig, nach Hause zu kommen. Er muss noch 30 Hektar Acker pflügen, der Winter ist nicht mehr fern, die Zeit drängt. Achtlos für meine Umgebung, die Blicke ständig zu Boden gerichtet, stolpere ich hinter ihm her durch die Wildnis aus Moor und Sumpf, Erlen, Birken und Weidengestrüpp.
Eine Schrecksekunde auf der Elchjagd in Estland
Unerwartet geraten wir auf knapp fünfzig Gänge an ein Elchtier mit Kalb. Wie versteinert stehen wir einander gegenüber. Die hellen Läufe des Wildes scheinen auf seltsame Art mit den weißen Birkenstämmchen zu verschmelzen. Die beiden Stücke verhoffen nur kurz, und zu lange dauert meine Schrecksekunde. Bevor ich noch die Büchse von der Schulter gerissen habe, gehen sie in raumgreifendem Troll ab, schweben förmlich über den Boden dahin, erinnern an Wesen aus einer untergegangenen Welt aus längst verklungener Zeit. Diesmal sollte mir der Erfolg auf der Elchjagd in Estland wohl verwehrt bleiben.
Meine Kanzel
Bereits am Nachmittag ziehe ich mit Adi erneut in den Wald zu „meiner“ Kanzel. Gegen 19 Uhr, Adi hatte mich vor einer Stunde abgesetzt, erhasche ich am gegenüberliegenden Waldrand eine Bewegung. Der Blick durchs Fernglas bestätigt: Dort verhofft ein Elch und sichert starr zu mir herüber. Nur der Vorschlag ist zu erkennen, der größte Teil des riesigen Wildkörpers steht im Gestrüpp, ist von grünem Erlengebüsch und hohem, gelbem Gras verdeckt. Bewegungslos wie ein Denkmal verhofft der Elch, dann, eine unmerkliche Bewegung und er ist wieder verschwunden. Kein Laut, kein Wackeln eines Zweiges, kein Brechen, er ist einfach weg. Minutenlang versuche ich mit meinen Blicken durch das Glas, den dichten Bewuchs zu durchdringen, keine Bewegung ist auszumachen.
Eine Gespensterjagd
Lautlos wie ein Gespenst war er aufgetaucht und ebenso leise wieder verschwunden. Ich weiß nicht, aus welcher Richtung er gekommen war und wohin er gezogen ist. Gebannt, ungläubig glotze ich zu dem Platz, an dem er eben noch stand, bis ich mich auf der Hochsitzbank wieder zurücklehne und mich darauf besinne, diese Atmosphäre der Elchjagd einfach nur zu genießen. Langsam steigt der Dunst vom Wald auf und zieht ins Feld.
Breit wie eine Schießscheibe
Als ich noch darüber nachgrübele, wie heimlich sich dieses gewaltige Wild bewegen kann, steht plötzlich wieder ein massiger, grauer Wildkörper am Rand des Waldes. Nur die spielenden Lauscher zeugen davon, dass Leben in der Wildstatue steckt, und ich erkenne, dass es ein junger Hirsch ist, ein Gabler, ein „Vierer“, wie man hier sagt, der zu mir herüberäugt. Dann kommt wieder Leben in den Hirsch, und vertraut zieht er am Waldrand entlang, breit wie eine Schießscheibe, aber von allerlei Bewuchs verdeckt, so dass ein sicherer Schuss nicht zu verantworten ist. Ich habe längst das Fernglas mit der Büchse getauscht und beobachte jede seiner Bewegungen durch das vierfache Zielfernrohr. Als er fast die Höhe der Kanzel erreicht hat, schwenkt er plötzlich um und zieht spitz auf mich zu.
Auf den Stich
Vielleicht bleibt mir der Erfolg auf der Elchjagd in Estland doch nicht verwehrt. Immer näher kommt er, uns trennen schließlich nur noch sechzig Gänge, aber der Schuss auf einen Elch mit seinem gewaltigen Vorschlag spitz von vorn wäre unverantwortlich. Da verhofft er erneut und äugt zu mir her. Ruhig liegt die Büchse im Anschlag, zeigt das Absehen auf den Stich. Als sich der Hirsch bis auf dreißig, vierzig Gänge genähert hat, dreht er unvermittelt ab, die Mündung folgt in seine Richtung, und als er breit verhofft, drücke ich ab.
Nach dem Schuss
Im Schuss knickt der Elch mit dem rechten Vorderlauf ein, flüchtet davon, ich repetiere, und bevor er den dichten Busch erreicht, schieße ich noch einmal. Der zweite Schuss trifft Mitte Blatt. Ich erkenne den Ausschuss als winziges, rotes Loch, aus dem Schweiß tritt, als der Gabler seinen Träger steil nach oben reckt, seine Hinterläufe einknicken und er mit den Keulen zu Boden geht. Nun versagen auch seine Vorderläufe den Dienst, der Hirsch bricht zusammen. Für wenige Momente schlagen die Stauden wild hin und her, ein letztes Schlegeln, bevor der Riese verendet ist. Noch lange sitze ich neben meiner Beute, bis die Dämmerung hereinbricht und am Himmel nacheinander vertraute Sternbilder erscheinen: der Große und der Kleine Wagen, dazwischen der Polarstern und darüber das unverkennbare „W“ der Kassiopeia. Durch die klare Luft erscheinen sie mir größer, deutlicher, eindrucksvoller als zu Hause. Als es fast stockdunkel ist, bekomme ich Besuch, erst von einem Waldkauz, der über den Raps gaukelt, dann von einem Marderhund und schließlich von Adi.