Dr. Florian Asche reist um den halben Erdball, um einen reifen Rothirsch zu erlegen. Das Unternehmen scheitert. Nach der ersten Enttäuschung macht sich Erkenntnis breit.
Oscar Wilde
„Gestern Abend drängte mich Mrs. Arundel ans Fenster, um diesen wunderbaren Sonnenuntergang anzusehen. Natürlich musste ich einen Blick hinauswerfen. Sie ist schließlich einer dieser absurd liebenswürdigen Spießer, denen man einfach nichts abschlagen kann. Und was bekam ich zu sehen? Einen zweitklassigen Turner aus seiner schlechtesten Periode.“ (Oscar Wilde – Intentions)
Das Melden der Hirsche
Über mir wölbt sich der riesige Himmel der argentinischen Pampa. Die hingeflüsterten Wolken scheinen zu brennen, und die Mischung von rot, rosa und brutalem orange ergießt sich wie ein Blutstrom über den grenzenlosen Himmel. In diesen Momenten bedauere ich Oscar Wilde, diesen Spötter und Naturverächter. Es ist so unendlich traurig, wenn man für die traumhaften und flüchtigen Momente der Natur kein Auge hat. Ich blicke wieder hinter mich und stolpere prompt. Man müsste sich jetzt hinsetzen und dieses Bild in sich aufsaugen, es ganz im Herzen einschließen und im Gepäck der Erinnerungen mit nach Hause nehmen. Doch schon hat die Naturschwärmerei ein Ende, denn José-Luis, mein Jagdführer, wir mir einen vorwurfsvollen Blick zu und winkt ungeduldig. Ich soll den Anschluss nicht verlieren. José hat keinen Blick für die Farben über ihm. Sein einziger Gedanke gilt dem Hirsch, der vor uns meldet, und der letzten Chance, seinen Gringo aus Deutschland doch noch auf einen „Ciervo Argentino“ zu Schuss zu bringen. Die Brunft neigt sich dem Ende, und die Tage sind glühend heiß. Auch in der Nacht kühlt es wenig ab. Dementsprechend laut ist das Melden der Hirsche, „ojo“, etwas für Schwächlinge.
Land und Leute
14.000 Kilometer bin ich bis an dieses Ende der Welt gereist, nachdem mich ein freundlicher Leser auf seine Estancia eingeladen hatte. In den unendlichen Weiten der Rinderkammer Argentiniens ist das Rotwild heimisch geworden, nachdem es vor 100 Jahren von Pedro Luro, einem leidenschaftlichen Jäger aus den Karpaten, eingeführt wurde. Die riesigen Waldflächen ähneln eher dem namibischen Busch, so stachelig und krumm gewachsen sind die Bäume, deren eisenhartes Holz schwer zu bearbeiten ist. Schachbrettartig ist die Pampa parzelliert, eine Legua umfasst 2.500 Hektar, ein Potrero 624 Hektar. So wechseln sich Busch und Weide ab, auf denen die Rinder gedeihen, die in den Spitzenrestaurants Europas den Teller verschönern.
Gegensätze zu Europa
Es wird viel in Europa über Tierhaltung und Nahrungsmittelproduktion diskutiert. Aber eins ist sicher: Jedes Lebewesen muss irgendwann sterben, doch bis zu ihrem Tod haben es diese Rindviecher sicher besser, als die durchschnittliche Milchkuh in Europa, die dreimal am Tag aus dem Melk-Karussell torkelt, um dann nach zwei bis fünf Jahren in der Wurst zu landen. 1.300 Stück bilden den Viehbestand der Estancia. Zwischen diesen „Vacas“ melden die Hirsche, und die einzige Chance, ihrer habhaft zu werden, ist das Angehen mit dem Pirschstock, eine herrliche und freie Jagdart, bei der man nicht auf Grenzen und Verkehr achten muss, keine Probleme mit dem Nachbarn kennt und keinen Verdruss mit Jagdbehörden und Hegegemeinschaften hat.
Ehrliches Pech
Hier atmet es sich frei, und gerade dies ist sicher der Grund, warum meine Gastgeber sich hier angesiedelt haben, um zumindest zeitweise der Hast und quälenden Vollzeit-Organisation unserer Heimat zu entfliehen. Gemeinsam mit mir sind zwei echte deutsche „Jagd-VIPs“ eingeladen, ein echter Forstdirektor und Rotwildkenner, Herrscher über 20.000 Hektar Bundesforst, und ein Afrika-Experte, der seinerzeit im Rahmen der Entwicklungshilfe zuständig für das Wildtiermanagement in Tansania und die Wildereibekämpfung war. Gemeinsam bemühen wir uns redlich, dem argentinischen Hirsch näherzutreten. Doch wir haben ehrliches Pech, das Scheitern auf der Jagdreise liegt in der Luft.
Vorsicht und Vorwürfe
Am zweiten Tag schien es zuerst, als sollte ich einer der glücklichen sein, die einen „Argentinier“ nach Hause bringen. Wir standen an einer Wiesenschlenke, als ein im Wildbret starker, älterer Hirsch hinter einem Tier mit Kalb Richtung Deckung zog. Tiefes Haupt, bulliger Schädel, die Masse ganz weit vorn. José und ich sind uns einig. „Shoot!“ tönt es neben mir, und ich folge dem flott ziehenden Hirsch mit dem Absehen. Unmittelbar vor der Buschkante verhofft der Alte, allerdings nur so kurz, dass ich einfach nicht fertig werde. Die Ruger hat einen so harten Abzug, dass ich ein wenig Zeit brauche, um den Schuss nicht zu verreißen. Diese Sekundenbruchteile lässt mir der Hirsch nicht. Es ist eine dieser Situationen, nach denen man tagelang mit sich hadert. „Hättest du nicht doch...? Du Memme! So weit war es doch auch nicht. Andererseits – der Abzug, eine Nachsuche im fremden Revier. Kein Schweißhund. Die vorwurfsvollen Blicke des Jagdherrn.“ Man wird irre an solchen Selbstgesprächen.
Staub der Pampa
Dazu kommt auch noch der grimmige Ton des Gauchos. „Why not shoot?“ Was weiß er schon von meiner Leihwaffe und ihren technischen Raffinessen. Sein Englisch und mein Spanisch sind zu schlecht, um sich über die Vorzüge des Stechers in solchen Situationen auszutauschen. Am besten begräbt man alles unter dem einmalig treffenden Zitat von Schiller: „Was du dem Augenblicke abgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.“ Es wird ja schon eine neue Gelegenheit geben, um Beute zu machen. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Es ergab sich keine weitere greifbare Chance. Mal wurde es zu früh dunkel, mal verschwieg der Hirsch im unpassenden Moment, an einem Tag zog er im Wind von uns weg, am anderen wurden wir zum Opfer des vorsichtigen Kahlwildes. Und als es ganz knapp vor dem Schuss war, da vergrämte der Puma als Konkurrenz den Hirsch. Wir fanden nur seine Fährte im Staub der Pampa.
Wunsch und Wirklichkeit
Heute ist der letzte Jagdtag und damit die letzte Chance, doch noch zu Schuss zu kommen. Hätten wir die Büchse mit der Flinte vertauscht, so wäre die Erfolgsquote größer gewesen, denn es wimmelt im Revier von Rebhühnern und Feldhasen. Mit einem guten Drahthaar und ein paar Freunden könnte man jagen wie im Deutschland des Jahres 1900. Hühnersuche unter strahlender Sonne. Doch der Jagdherr ist ein Hirschvater. Erst die Brunft und vielleicht kann man ja später einmal dem Niederwild nähertreten, wenn der Hirsch liegt. Die Flinten bleiben im Schrank.
Steigender Puls
José-Luis beginnt zu laufen. Er hat auf gute Entfernung einen Hirsch schreien gehört, und wir sind knapp in der Zeit. Obwohl es viel in diesem Jahr geregnet hat, wird das Pampasgras dürr und man muss beim Auftreten besonders Acht geben. Vorsichtig, vorsichtig nähern wir uns der guten, tiefen Stimme. Es sieht so aus, als müsse ich nicht weit schießen, was mich sehr glücklich macht, denn der Abzug der Ruger ist wirklich bretthart. Wir nutzen jede mögliche Deckung und kommen gut voran. Schließlich stellt mein Gaucho das Dreibein auf und bedeutet mir mit einigen Zeichen, mich fertig zu machen. Dröhnend und gebrochen schallt die Stimme zu uns herüber, und mein Puls pumpt beachtlich. „Esta el Ciervo!“ flüstert mir José zu. Und tatsächlich schiebt sich hinter dem Dornenbusch die rote Decke des Brunfthirschen hervor.
Scheitern auf der Jagdreise - letzte Chance
Sofort mache ich mich fertig, gehe ins Ziel, entsichere – und lasse die Büchse gleich wieder sinken. Der jugendlich verträumte Gesichtsausdruck des doppelseitigen Kronenhirschen verspricht eine gute Zukunft für das Revier, jedoch keinen Jagderfolg am letzten Tag. Wie kann eine Stimme nur so lügen? José flucht leise vor sich hin, doch nicht lange, denn Argentinier sind stolze Menschen, bei denen es als unfein gilt, zu sehr die Fasson zu verlieren. Es wird dunkel, die letzte Chance ist vertan.
Leiden und Liebenswertes
Am nächsten Abend sitze ich in einer der zahllosen Straßenbars von Buenos Aires, in einer vollendet anderen Welt. Kein stolzer Sohn der Pampa würde es hier nur eine Stunde aushalten, in diesem Labyrinth von Straßen, Häusern, Pracht und Slums, Reichtum und Elend, in dem 15 Millionen Menschen ihr Leben fristen. Auch ich brauche einige Zeit, um mich hier wohl zu fühlen, inmitten dieser gigantischen Menschenmenge. Doch der Tango hilft, der aus den Lautsprechern des Cafes tönt. Es ist, als ob diese Musik die stille Melancholie des riesigen, weiten Landes aufgreift. Tango ist die Vertonung von Leidenschaft und Tod. Beim Tango ringen Mann und Frau miteinander, lieben und hassen sich und zum Schluss muss immer gestorben werden. Der Tango versinnbildlicht das Scheitern unserer Existenz, wenn es um unsere tiefen seelischen Abgründe und Begierden geht. Wahrscheinlich spricht mich diese Musik deshalb so an, weil mir in diesem Moment mein eigener Misserfolg so bewusst wird.
Scheitern auf der Jagdreise – Vom Schützen zum Jäger
Am nächsten Morgen werde ich mit einem schweren Kopf in der Maschine nach Europa sitzen. Ohne Beute, ohne Ausweis des jagdlichen Erfolgs. Einfache Gemüter mögen darüber mitleidig lächeln. Da ist man fast 30.000 Kilometer geflogen und alles war für die Katz. Alles? Ich habe unendlich liebevolle und warmherzige Gastgeber kennengelernt. Vorurteilsfreie und in sich selbst ruhende Menschen, Liebhaber ihrer Wahlheimat und leidenschaftliche Freunde des Wildes. Ich durfte ein Land sehen, so weit und so frei, wie wir es in unserer europäischen Bodenhaltung gar nicht mehr kennen. Ich durfte in Steaks und Rotwein schlampampen. Ich durfte jagen. Sicher, was die Beute angeht, bin ich gescheitert. Doch ist es nicht so, dass auch das Scheitern auf der Jagd ein großer Schatz in unserem Leben ist? Das Scheitern auf der Jagdreise bereitet uns vor auf die anderen Herausforderungen im Leben. Das Scheitern auf der Jagdreise ist ernsthaft, aber nicht endgültig. Das Scheitern auf der Jagdreise lässt uns vom Schützen zum Jäger reifen.
Kinder und Konflikte
Wie wichtig es ist, das Scheitern zu lernen, sehen wir mit einem Blick auf unsere eigenen Kinder. Unsere Kinder bleiben in der Schule nicht mehr sitzen. Sie bekommen Berichtszeugnisse, damit die Noten sie nicht erschrecken. Es gibt keine Dummen mehr, sondern nur noch Minderbegabte. Beim Schultheater verbeugen sich alle gemeinsam, damit kein Starkult entsteht und niemand zurück bleibt. Unsere Kinder prügeln sich auch nicht mehr, denn sofort stehen Streitschlichter zwischen den Kamphähnen und lösen Konflikte, was das Zeug hält. Sie verletzen sich auch nicht mehr beim Spielen, denn sie sind warm eingepackt in Knieschützer und Sturzhelme. Als ich klein war, lernte ich das Kochen auf einem echten Elektroherd für Kinder, mit dem man Wasser zum Sieden bringen und Kekse backen konnte. Die Brandnarben habe ich noch heute, wo solche Gefährlichkeiten längst vom Markt verschwunden sind.
Angst vor Fehlern
Die Folge ist, dass unsere Kinder und Jugendlichen immer mehr Angst vor ihren eigenen Fehlern haben. Denn wenn eigentlich niemand mehr versagt, dann wächst die Furcht, zu den wenigen am Rande zu gehören, zu den Verlierern. Zukunftsängste und Burn-out-Neurosen sind die Folgen. Die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit ist es, die in besonderer Weise die Jugendlichen unserer Gegenwart kennzeichnet.
Wind und Wetter
Es ist die Jagd, als ein Erlebnis der Wahrheit, die uns vor diesen Ängsten beschützt, eben gerade, weil das Scheitern ihr zwangsläufiger Bestandteil ist. Als Jäger sind wir umgeben von so vielen Dingen, die wir nicht beeinflussen können. Wind und Wetter, Wildbestand und Raubwild, Kultureinflüsse und schlichtes Glück. Das Scheitern unserer Wünsche wird da frei Haus geliefert. Ein Jäger, der dies nicht erkennt und sich mit seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten, seinem Pech und seinem Fehlverhalten nicht abfindet, der wird nicht lange Jäger bleiben. Für alle anderen gibt es die ewigen Wahrheiten, die immer gleich lauten: Aller Tage ist Jagdtag, nicht aller Tage ist Fangtag, und wenn wir am Abend gescheitert sind, dann gibt es einen neuen Morgen, an dem wir das Gewehr schultern, dem Hund pfeifen und hinausgehen, um in der Wahrheit zu leben. Damit haben wir mehr erreicht, als alle Mitmenschen in der virtuellen Gegenwart unserer zivilisierten Gesellschaft.